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Interview mit Stephan Zahn, Geschäftsführer und Bereichsleiter Arbeit WBZ, anlässlich des Podiumsgesprächs «Fordern Menschen mit Behinderung zu viel?» am 14. September 2023 im WBZ

Gleichstellung für Menschen mit Behinderung – unser tägliches Ziel, unser täglicher Massstab und nichts wie Recht

Das WBZ ist vor knapp 50 Jahren als Selbsthilfeprojekt von Menschen mit Behinderung gegründet worden. Sie engagierten sich für ihre Eigenständigkeit und für qualifizierte Arbeitsstellen. Beide Aspekte gehörten deshalb von Beginn an zur Identität des WBZ. Es ging uns schon immer um möglichst grosse Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Spätestens mit der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK), aber auch dem schweizerischen Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) ist die Diskussion über die Rechte von Menschen mit Behinderung inzwischen in der Gesellschaft angekommen. WBZ-Geschäftsführer -und Bereichsleiter Arbeit Stephan Zahn nimmt im Gespräch zu Fragen der Gleichstellung Stellung.

Stephan Zahn, weshalb ist es auch heute noch notwendig, über die Rechte von Menschen mit Behinderung zu diskutieren?

Weil Nachholbedarf besteht. Ein grosser Teil einer Behinderung entsteht aus der Umwelt heraus. Gibt es erst gar keine Schwelle bzw. existiert eine Rampe oder ein Lift zusätzlich zur Treppe, dann sind mobilitätseingeschränkte Menschen deutlich entspannter unterwegs. Bei solchen physischen Hemmnissen stellt sich die Frage nach der Verteilung von Ressourcen. Gelder, die beispielsweise für barrierefreie ÖV-Haltestellen gesprochen werden, stehen andernorts nicht mehr zur Verfügung. Hier kann es durchaus zu Zielkonflikten kommen. Also braucht es eine Diskussion, wie die Rechte zu interpretieren und mit welchen Konsequenzen umzusetzen sind. Es geht aber auch um Einstellungen, um Haltungen – eine Sache des Kopfes. Was trauen wir Menschen mit Behinderung zu? Betrachten wir sie als Sonderfall oder ist jeder Mensch ein Normalfall mit spezifischen, individuellen Eigenheiten? Für uns als Institution ist Gleichstellung eine Selbstverständlichkeit.

Sind auch die qualifizierten Arbeitsstellen knapp 50 Jahre nach Gründung des WBZ noch eine Tatsache?

Aber sicher! Leistungsorientierte, weitgehend normalisierte Arbeitsplätze sind ein Teil unserer Angebotspalette. Sie sind auf Produktivität und einen wirtschaftsnahen Output ausgelegt und bewegen sich nahe am ersten Arbeitsmarkt. Da dieser noch längst nicht genügend Stellen für Menschen mit Behinderung schafft, halten wir quasi die bestmögliche zweite Lösung bereit. Zur Wirtschaftsnähe zählen auch unsere Leistungslöhne.

Wie schafft das WBZ Teilhabe?

Wir schaffen möglichst normalisierte Lebenssituationen und dadurch entstehen Teilhabemöglichkeiten, die eine weitere Öffnung des WBZ zulassen: Gastronomie, Garten, Kita ... Unsere Bewohner:innen erhalten in ihren grossen Zimmern eine primär körperliche Pflege als Basis, um am Leben teilnehmen und ihre Gesundheit so gut wie möglich erhalten zu können. In der restlichen Gestaltung ihres Alltags bleiben sie sehr frei. Sie nutzen unser Freizeitangebot oder eben auch nicht, sie bauen sich ihre Sozialkontakte nach eigenem Gutdünken auf, sie entscheiden, wann, was und wieviel sie essen wollen. Diese Freiheit bietet Chancen für Entwicklung und Teilhabe.

Schaffen es alle, mit solchen Freiheiten umzugehen?

Wenn wir die richtigen Situationen schaffen, dann entfalten sich nicht erahnte Potenziale. Selbstverständlich bieten andere Modelle, wie beispielsweise eine feste Wohngruppe, auch Vorteile. Man ist eingebettet in ein vertrautes Umfeld – ganz unabhängig davon, ob man jedes Mitglied dieser Gruppe persönlich mag. Die Situation bietet Sicherheit, engt aber auch ein. Ähnlich wie in der Herkunftsfamilie, von der man sich ja auch irgendwann mal abnabeln möchte. Sich immer wieder selber zu entscheiden zu müssen, wie und mit wem man sein Leben verbringen will, kann allerdings ein herausfordernder, ängstigender Entwicklungsschritt sein. Sozialkontakte ergeben sich bei uns nicht mehr automatisch. Wir lassen unsere Bewohner:innen damit aber nicht allein, sondern halten Angebote und Begleitung bereit. Wichtig ist, die verschiedenen Bereiche des Lebens räumlich zu separieren, sodass man sagen kann: Ich gehe zur Arbeit, ich gehe zum Essen oder auf einen Ausflug und kehre danach nach Hause zurück. Exemplarisch ist dafür unsere Abteilung Werkplatz, die ganz unterschiedliche Tätigkeiten im Bereich der Tagesstruktur ermöglicht – und das ausserhalb der Wohnetagen.

Welche Erfahrungen machen Sie damit?

Teilweise müssen tatsächlich grosse Hürden überwunden werden, gerade wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner kommunikativ und kognitiv kaum in der Lage ist, Kontakte aufzubauen. Aber wir erleben im sozialen Bereich grosse Überraschungen. Da zeigen sich unglaubliche Potenziale ... Da kommen Leute aus sich heraus, die es vorher nur kannten, dass andere für sie entschieden haben ... Das ist erstaunlich. Mit unserer relativ offenen Situation bieten wir die Möglichkeit zu Normalisierung, ohne die Herausforderungen auszublenden.

Woran denken Sie da?

Als Institution sind wir nie die perfekte Lösung, um ganz selbstständig zu sein. So gerne wir das anders handhaben würden – auch wir sind manchmal ein einschränkender Rahmen. Wer Pflege braucht, kann nicht aus dem Moment heraus entscheiden, aufzustehen oder ins Bett zu gehen, denn das Personal muss sich organisieren können. Menschen mit Behinderung werden immer an Hemmnisse stossen, aber wir versuchen, so viel Flexibilität wie möglich zu leben und die Teilhabeorientierung in der Institution zu realisieren. Immer unter Berücksichtigung unserer strukturellen und finanziellen Grenzen natürlich. Eine tolle Entwicklung ist beispielsweise unser Bewohner:innen-Rat, der auf Initiative aus der Bewohnerschaft gegründet wurde und zu einem wertvollen Ideengeber und in vielen Fragen zu einem Sparringpartner der Geschäftsleitung geworden ist.

Wie wird festgelegt, wer zu welchen Angeboten Zugang hat?

Wir bewegen uns in einem Dreieck zwischen Klient:innen, unseren Fachstellen als Leistungserbringer und jemandem, der koordiniert und coacht. Diese Rolle übernehmen unsere Teilhabecoaches. Gemeinsam wird eine individuelle Leistungsvereinbarung entwickelt. Sie beinhaltet nicht nur die Pflege und die Arbeit, sondern das ganze Lebensspektrum, also auch soziale und Entwicklungsthemen. Daran arbeiten wir momentan sehr stark. Es handelt sich um eine Grundlage, die dazu dient, dass Menschen möglichst teilhabeorientiert leben und ihre Rechte wahrnehmen können.

Sie haben vorher kurz die Gastronomie im WBZ erwähnt. Was ist daran besonders?

Zum einen ergeben sich die Essenszeiten aus der individuellen Tagesgestaltung, abgestimmt auf Arbeitszeiten, Arzt- und Physio-Termine oder ähnliches. Aber eben auch abgestimmt auf die Persönlichkeit und die Tagesform. Es gibt keine fixen Essenszeiten. Zudem ist unser Gastronomiekonzept mit Restaurant, Kaffee-Bar und Buffet auf Wahlmöglichkeiten ausgelegt. Ich muss mich nicht morgens oder bereits am Vortag für ein Menu entscheiden, sondern kann vor Ort schauen, was mich «gluschtet» und wie viel ich von wovon möchte. Das ist ein aufwändiges Konzept, denn viele unserer Bewoh-ner:innen werden zur Gastronomie, in der Auswahl, an den Tisch und teilweise auch bei der Essenseingabe begleitet. Aber sie sind selber mit am Buffet und entscheiden.

Sie reden von einer offenen Institution. Wie schaffen Sie es, tatsächlich eine Durchmischung mit dem Leben «draussen» zu erreichen?

Zunächst haben wir auch eine Durchmischung «drinnen». Im WBZ ist eine Kita eingemietet, wir führen selber offene Veranstaltungen durch und begrüssen externe Veranstalter und Gäste im Haus, die Gastronomie steht Dritten offen, wir haben sogenannte Servicewohnungen, die von selbstständig lebenden Mieter:innen mit Handicap bezogen werden ... Zudem ist der Haupteingang nach Reinach ausgerichtet, sodass unsere Bewohner:innen ebenerdig und auf möglichst kurzem Weg ins Dorfzentrum gelangen. Und wir bieten Ausflüge, Besuche und Ferienangebote an.

Eine Kita im Haus stellt aber nicht per se Durchmischung her?

Da hat sich eine schöne Dynamik ergeben. Die Kinder drehen ihre Runden nicht nur im eigenen Gartenteil; sie veranstalten ihre Trottinettrennen auch bei uns auf den Wegen. Sie kommen im Sommer mit ihren selbst gemachten Glacés bei uns vorbei, wir laden uns gegenseitig zu Anlässen ein. Da finden immer wieder neue Kontakte statt – ein sehr belebendes Element.

Sind alle WBZ-Leistungen über die Behindertenhilfe gedeckt?

Nein. Die staatliche Finanzierung schafft einen angemessenen Standard. Wir gehen einen Schritt weiter, weil es unsere Kernaufgabe ist, Menschen mit Behinderung in ihrer aktuellen Lebenssituation so gut wie möglich zu begleiten. Ein Beispiel dafür ist die Grösse der Bewohner:innen-Zimmer, die eine Aufteilung in Schlaf- und Wohnzone erlaubt. Jedes freiwillige «Mehr» an Leistungen – auch bei Aktivitäten, in der Gastronomie, bei den Arbeitsangeboten und der Tagesstruktur – führt zu einem betrieblichen Defizit, das wir über Spendengelder decken müssen. Diese Gelder sind eine Investition in die Lebensqualität unserer Bewohner:innen und Mitarbeitenden mit Behinderung.

Wie entwickelt sich die Institution weiter, woran arbeiten Sie?

Primär daran, auch in Zeiten von Fachkräftemangel die pflegerische Qualität sicherstellen zu können. Und dann geht es darum, die Bedürfnisse des Individuums erkennen zu können und dafür die richtigen Leistungen bereitzustellen. So müssen sich zum Beispiel die Angebote in der Tagesstruktur den Menschen und ihren körperlichen wie mentalen Fähigkeiten anpassen statt umgekehrt. Welche Arbeitsinhalte und welche Infrastruktur können wir bereitstellen, damit eine Person mit fortgeschrittener Parkinson-Erkrankung einen erfüllten Alltag verbringen kann? Es sind immer wieder kreative Lösungen gefragt, denen aber auch limitierende Faktoren wie Kosten, Kompetenzen und Kapazitäten gegenüberstehen. Mit dem Neubau haben wir ein erweitertes Angebot, das wir dauernd entwickeln und verbessern. Wir prüfen aktuell, ob sich ein Angebot mit Tieren aufbauen lässt. Das wäre grundsätzlich sehr sinnvoll, sofern wir die Realisierung und Finanzierung sicherstellen können.

Gibt es Hilfsmittel, um sich als Institution immer wieder selbst überprüfen zu können?

Wir haben angefangen, mit dem «UN-BRK Navigator» zu arbeiten – einer Art Checkliste zur Behinder-tenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Diese Broschüre, aber auch viele andere Unterlagen können im Übrigen von (www.aktionsplan-un-brk.ch)[www.aktionsplan-un-brk.ch] heruntergeladen werden. Der Navigator stellt Haltungen, Kenntnisse und Fähigkeiten vor, um in den Bereichen von Diskriminierung, Gesundheit, Mobilität/Technik, Rechte und Teilhabe kompetent tätig sein zu können. Die aufgeführten Kriterien dienen uns dazu, kontinuierlich zu überprüfen, wo wir stehen.

Herzlichen Dank für das Interview! (Marion Tarrach)

Reinach, 30.08.2023
WBZ/KOF/tmü/ofe

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